(Unknown) Comedy
Archäologie der Songs
Bücher
Diagnose
Durch Schall und Rauch
Geschichte kurz
Ich wollte was schreiben über:
Ich würde gerne wissen, was ich gemeint hab, als ich in mein Notizbuch schrieb:
Im Kino (gewesen)
Konzerte
Liedtexte oder Zitate
Musik
Probe Objektiv
SB Warenhaus
Spracherkennung
Traumtagebuch
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
La disposition des matières est nouvelle. Non-Casual Blogging.™

 

Geschichte kurz

Erst im Nachhinein verstand ich den eigentlichen Grund, warum er an dem Abend mitgekommen war. Er stand seiner Neugierde absolut hilflos gegenüber. Er musste alles wissen. Und er konnte mir schon im Voraus alles über diese Leute erzählen. Und wenn er etwas nicht wusste, dann dachte er sich eben etwas aus, und fügte es so nahtlos in die ganzen Geschichten ein, dass man nichts bemerkte.
An dem Abend war es die Chance, in eine Gruppe hineinzuschauen, zu der er sonst keinen Zutritt gehabt hätte. Diesen Zutritt bekam er jetzt durch mich. Und selbst ich war nur durch Zufall in diese Gruppe geraten. Er hatte zu mir gesagt: „Ich kann dir aber nicht garantieren, dass Nadine nicht da ist.“ Etwas verwirrt hatte ich darauf geantwortet: „Und wenn schon. Dann ist Nadine halt da. Ist doch völlig egal.“ Er redete dann einfach weiter

In wenigen Minuten alterte er vor meinen Augen um Jahre, und das nur durch die paar Worte, die er sagte: „Ich will mir in harter Arbeit das Wissen der Welt aneignen.“ Dann lachte er und sagte: „Natürlich.“ Er schaute mich an. „Ich weiß, dass das nicht geht, aber irgendwie fühle ich mich hier nicht mehr wohl.“ Seine Augen hafteten an dem Glas, das vor ihm stand und ich vergaß alles, was er mir jemals bedeutet hatte.

Dort steht Michel, ich gehe wortlos auf ihn zu und reiche ihm die Hand. Ich habe Michel noch nie die Hand gereicht, umarmt haben wir uns auch noch nie; vielleicht haben wir uns mal abgeschlagen, aber das muss passiert sein, als wir betrunken waren. Danach reiche ich auch Michels Eltern die Hand und einigen Umstehenden, von denen ich die meisten nicht kenne. Michel sieht unglücklich aus, er hat geweint, und er will mich nicht anschauen als ich ihm die Hand gebe. Seine Eltern allerdings sehen mir in die Augen, und ich kann erkennen, dass sie mich weiterhin als eine Art Mitglied der Familie behandeln wollen, so wie sie es immer getan haben und auch hier auf der Beerdigung. Ich stelle mich zu Christoph und Maik, obwohl ich mich vom Alter her ruhig zu Michels Verwandten stellen könnte. Die ganze Klasse von Michels Schwester ist anwesend und ich kann auch ihren Klassenlehrer erkennen, der zwei oder drei Meter links von mir steht. Über den Friedhof weht ein leichter aber kühler Wind, doch Wolken gibt es keine am Himmel, es ist einfach für eine Beerdigung viel zu sonnig, vor allem ist es für den Oktober viel zu sonnig. Sophies Klassenlehrer nickt mir zu und ich nicke zurück, ich hatte ihn in der fünften und sechsten Klasse in Mathematik, doch das ist nun schon über zehn Jahre her, ich glaube nicht, dass er mich noch kennt. Dann sieht er wieder auf das Loch, das in der Erde klafft und ich schaue ebenfalls dorthin. Neben dem Loch stehen vier Männer, sie werden wohl gleich den Sarg mit Michels Schwester Sophie in die Erde hinablassen und ich kann mich nicht erwehren, heftig zu schlucken und Tränen in mir aufsteigen zu spüren. Unter Alkoholeinfluss werden manche Menschen sehr rührselig. Trotzdem bin ich überzeugt, dass ich auch ohne den sich langsam abbauenden Pegel der vorigen Nacht weinen würde. Ich hatte Michels Schwester gemocht und ein paar Mal versucht, mich in sie zu verlieben aber es hatte nie richtig geklappt.

Am nächsten Morgen wachte ich bei Michel im Keller auf, ich war nicht mehr nach Hause gegangen, ich wachte allerdings auch nicht in Sophies Zimmer auf. Als ich mich aufrichtete, kam Michel rein und sagte: „Alles klar? Brauchst du einen Eimer?“ Ich ließ mich zurückfallen, rieb mir die Stirn und sagte: „Nein, danke, alles okay, aber wenn du diese Aspirin Migräne noch hast, dann hätte ich jetzt gerne eine.“ Eine bedeutete zwei Brausetabletten im Aufreißpäckchen. Ich richtete mich erneut vom Sofa auf, stellte die Füße auf den Boden und schnaufte laut. Michel kam mit der Tablette und einem Glas Wasser zurück und drückte beides in meine Hände.
„Hier bitte“ sagte er und setzte sich neben mich. Ich riss das Päckchen auf, und ließ die beiden Tabletten in das Glas fallen. Beim Auflösen fragte mich Michel:
„War Nadine eigentlich gestern sauer, dass du so besoffen warst? Ich meine, weil sie so früh abgehauen ist.“ Er zog sich seine Schuhe an und versuchte einen Überblick zu bekommen, wo er anfangen sollte, aufzuräumen.
„Nein, sie war müde und Jenny und Lisa waren auch schon weg. Aber sauer war sie wahrscheinlich auch.“ Natürlich ließ ich alle Beschwerden darüber, wie langweilig die Party angeblich war, aus.

Nadine wich meinem Blick aus: „Jenny und Lisa sind auch schon gegangen, die fanden das hier irgendwie doof. Ich kann ja schon gehen. Dann schläfst du heute halt mal zuhause.“ Damit hatte ich meine Strafe für mein Betrunkensein empfangen. Das machte mir irgendwie gar nichts aus und ich sagte: „Na gut, wenn du meinst. Gehst du dich noch von Michel verabschieden?“
„Das kannst du ja für mich machen. Ich bin müde. Tschüß.“ Sie gab mir einen kleinen Kuss und ging die Treppen rauf, wo wir vorhin unsere Jacken hingeschmissen hatten. Es ist Michels Geburtstag, dachte ich, und du verabschiedest dich nicht mal persönlich von ihm, obwohl du ihn schon genauso lange kennst wie ich. Und Sophie hatte sie nicht mal angesehen. Aber wenigstens war sie nicht betrunken gewesen. Wenn Nadine betrunken ist, wird sie unausstehlich, sie fängt laut an zu gackern und stolpert ziemlich schnell durch die Räume.
Ich schaute auf mein Glas und dachte, dass es noch lange nicht genug war. Die Party lief gut und man merkte gar nicht, dass Nadine, Jenny und Lisa weg waren. Ich hatte das Gefühl, dass die Party noch ziemlich lange dauern würde, und sagte zu Sophie: „Ich bin gleich wieder da.“
Dann ging ich nach draußen und kotzte in die leere Regentonne von Michels Eltern.

Wenn man dieses Wort Mitgefühl mal so richtig auseinander nimmt, entdeckt man eine sehr wunderschöne weil seltene Sache. Mitfühlen. Sie fühlt mit. Zusammen mit mir in der Sache, dir mir Freude macht oder auch Sorgen. Ein Mitgefühl, ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Ich will mich nicht für eine Frau verändern. Ich will mich nicht für sie verstellen, ich will einfach so bleiben wie ich bin. Und zu diesem Sein gehört alles. Es gibt kein schlecht drauf, gut drauf.
Ich möchte mal wissen wer diesen saudummen Satz geprägt hat: Gegensätze ziehen sich an. So ein Schwachsinn!
Ja, okay, sie ziehen sich an. Doch was kommt danach, wenn sie beieinander sind? Dann ist nichts. Es gibt einen großen Knall, wenn Gegensätze zusammenstoßen und dann ist alles ruhig.

Mein Bruder weckt mich, es ist sechs Uhr nachmittags, und ich hatte einen Alptraum. Ich zucke ziemlich zusammen und bin erleichtert, dass es nur ein Traum war: Ich fahre nachts mit dem Fahrrad durch die Dunkelheit, es ist auch neblig, ich kann den Nebel im Mund als Wasserteilchen schmecken und ich habe Angst, dass jemand mich verfolgt. Mein linker Arm fühlt sich irgendwie taub an und ich habe mal gehört, dass sich der linke Arm taub anfühlt und kribbelt kurz bevor man einen Herzinfarkt bekommt. Aber ich glaube dann doch, dass der Arm sich taub anfühlt, weil er während der ganzen Fahrt durchgestreckt war und wahrscheinlich irgendeine Ader abgeklemmt war.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagt mein Bruder. „Telefon für dich.“

Der Tod ist eine traurige Angelegenheit und man muss ihn entsprechend würdigen. Wenn jetzt jemand kommt und mir sagt, dass der Tod auch immer Neuanfang bedeutet, dann würde ich ihn im Nacken packen und seinen Kopf an den Rand eines Grabes drücken, ihn das Gras schmecken lassen und ihn fragen: „Wo ist der Neuanfang? Zeig mir den Neuanfang.“ Und bei jedem Wort würde ich seinen Kopf tiefer in das Gras drücken, die Herbstsonne im Nacken, und mit wachsenden Grasflecken an den Knien.

„Sie hat gestern etwas zu mir gesagt, was sie 1000 Meilen von mir entfernt hat. Und das, wo sie sowieso schon so weit entfernt war.“
-„Wann hat sie es gesagt? Bevor oder nachdem du gekotzt hast?“
„Nachdem ich das zweite Mal kotzen war.“
-„Mann, wieso hast du nur soviel Wein gesoffen? Was hat sie denn gesagt?“
„Also, ich stand da so schwankend rum und lehnte mich an sie, war völlig fertig und down und so und sie meinte: Ich habe jetzt gar kein Mitleid mit dir.“
-„Aha.“
„Da war ich so erschrocken und verletzt und auch angewidert, weil diese Scheiße mich in dem Moment so angekotzt hat. Ich fand das schrecklich. Ich habe keine Ahnung, wieso mir dieser Satz so im Kopf widerhallt, wieso mich das so beschäftigt, und wieso ich so überzeugt davon bin, dass es absolut falsch ist, was sie gesagt hat. Es wäre scheißegal, aus welchem Mund es gekommen wäre, es wäre trotzdem falsch gewesen. Auch wenn du es gesagt hättest. Es ist so, als würde man zu einem Menschen sagen, der von einem Auto angefahren wurde und nun blutend auf der Straße liegt: Ich habe kein Mitleid mit dir.“
-„Was hättest du denn gerne gehört?“
„Ich hätte gerne gehört, dass sie wissen will, was los ist, wieso es mir so geht, wie es mir geht, dass es nicht meine Schuld ist, dass sie mich bemitleidet, dass sie immer für mich da ist, solche Sachen eben, tröstende Sachen. Statt dessen: ein aus Dummheit selbstbewusstes Lächeln, ein ironisches Umarmen, ein zynisches: ach, dir geht es ja so schlecht und du bist ja so arm dran. Die weiß einen Scheiß darüber, wie schlecht es mir wirklich geht. Man hat doch als Mann bei einer Frau gerne das Gefühl, verstanden zu werden, man erwünscht sich Mitverständnis.“
-„Weißt du was? Du laberst in letzter Zeit nur noch Scheiße. Sie hätte dir lieber noch eine knallen sollen!“

Ich lege den Hörer auf und ihre Worte haben ein Echo in meinem Kopf ausgelöst. Das Telefon ist ein blaues Tastentelefon mit 12 Tasten, 1 bis 9 und die 0, ein Sternchen und die Raute. Ich weiß bis heute nicht, wozu die Raute oder das Sternchen da sind. Wahrscheinlich zum Durchstellen. „Ja, danke, Frau Meier, stellen sie das Gespräch bitte in meinen Kopf durch. Ich möchte, dass die Informationen direkt auf mein Gehirn gebrannt werden.“
Erst jetzt merke ich wie laut es draußen ist, jetzt um 2 Uhr nachts. Durch die auf Kippe gestellte Balkontür höre ich das Rauschen der Fabrik, die 300 Meter entfernt Nachtschicht hat, und man hört sogar das Rauschen des Wassers in der Kanalisation durch den Kanaldeckel. Wenn tagsüber draußen keine Autos entlang fahren oder Menschen langgehen, ist es trotzdem lange nicht so still, wie wenn nachts draußen keine Autos entlang fahren oder Menschen langgehen. Das merkt man daran, dass nachts die Fabrik so laut zu rauschen scheint.
Als vor einer Stunde dann das Telefon in meinem Zimmer klingelt, bekomme ich sofort Angst, dass etwas Schlimmes passiert ist. Niemand ruft normalerweise um ein Uhr jemanden an, wenn er nicht eine schlimme Nachricht zu überbringen hat, oder es demjenigen sehr schlecht geht. Wie ich herausfinden sollte, traf beides zu.