Freitag. In einer Festival-Rezension kann nicht nur etwas über die Musik stehen, denn Festival transportiert gleichzeitig sowohl für Besucher als auch für Rezensenten etwas Woodstock, etwas Ausbruch, etwas Rebellion, etwas... mehr als Bands, die auf Bühnen stehen und spielen jedenfalls. Der Woodstock-Vergleich passt dann zum Stemweder Festival auch am besten; nicht was die musikhistorische Relevanz betrifft und auch nicht was die Qualität der Künstler angeht, und wohl auch nicht was die Gesinnung der Besucher angeht (von der Anzahl ganz zu schweigen), aber vielleicht ist das Bild des Woodstock-Besuchers noch in so manchem Kopf des Stemweder-Festival vorhanden und somit ist „Gesinnung“ im Sinne von „man möchte einem Sinn folgen“ doch noch am passendsten. Aber viele Gäste dieses Festivals wollen erst einmal vom Äußeren der Gesinnung des Woodstock-Festivals folgen, vor allem was Nüchternheit (nicht vorhanden) und Hygiene (wenig bis gar nicht vorhanden, zumindest auf den Zeltplätzen) angeht. Ich gehe selbst hierbei von meinem eigenen Bild von Woodstock aus, genährt aus Berichten und Filmbeiträgen und dem Film selbst natürlich. Jetzt werden viele sagen, dass das auf allen Festivals so ist, und ob ich noch nie was vom Wacken gesehen hätte. Ich war noch nie auf dem Wacken, ich kenne nur Geschichten vom Wacken und den Film natürlich, aber auf keinem „Umsonst & Draußen“ Festival ist man so professionell asi(g), betrunken, bekifft und siffig wie auf dem Stemweder Open Air Festival. Alle Asi-Punks, junge und alte Hippies und Alt-Rocker der Welt treffen sich hier. Aber wahrscheinlich sind es leider nur die des Einzugsgebiets, das bis vielleicht 100 oder 150 km rund um Stemwede liegt. Hier in Bielefeld und OWL ist man verwöhnt mit Diskos, die „alternative“ Musik spielen, was nach meiner Definition immer noch härterer Gitarrenrock ist, und ebenso sprießen neue Festivals aus dem Boden, auf denen zumeist Bands spielen, die „das harte Brett fahren“. NuMetal, Crossover-Metal, Irgendwas-Core, you name it. Das gab es vor 10 Jahren noch nicht und zeigt einiges, was ich aber hier nicht alles aufdröseln kann. Als ich vor 8 Jahren das erste und einzige Mal - bis gestern – auf dem Stemweder Open Air Festival war, konnte ich nicht ahnen, dass ich heute, 2008, so ein großes Bedürfnis verspüren würde, einmal darüber zu schreiben. Es brodelte in mir, es brodelte ob der Selbstzerstörung und Respektlosigkeit, die auf diesem Festival herrscht und irgendwo hoffte ich, es würde woanders anders sein. Ob es so ist, weiß ich nicht, aber ich glaube es. Es gibt eine Menge Katastrophentourismus auf dem Stemweder Open Air Festival, adoptierte Alternative-Kids, die sich abschauen wollen, wie es ist, „alternativ“ zu leben, und die sehen dort, was das heutzutage wirklich bedeutet, vor allem, wenn man schon eine längere alternative Karriere hinter sich hat. Man sieht diese unbedarften und unschuldigen Mädels zwischen all den Schnaps- und Haschleichen herumstolpern, zumeist sind es zwei sich an den Händen Haltende, die nicht wissen, auf welches Elend sie zuerst schauen sollen: die Unmengen an gescheiterten Existenzen, die sich auf immer von der Gesellschaft verabschiedet haben, dies als richtig ansehen und es noch verteidigen; auf die aus Gleichgewichtsverlust durch Rauschmittel Umgefallenen; auf die Horden ins Wald Urinierenden; auf all die, die den Rest des Jahres damit verbringen, das Verpfuschte der letzten Jahre oder Jahrzehnte wett- und gutzumachen und an diesem Wochenende einknicken. Aber letzteres ist auch nur ein ängstlicher Wunsch: es kann ja nicht sein, dass der Alltag dieser Menschen so aussieht, oder doch? Dort sehe ich ein Gesicht aus alten Diskonächten, „Beule“ wird er genannt, der immer voll auf Sendung war wenn ich ihn sah, jahrelang ging das damals so. Jetzt sehe ich ihn wieder, vielleicht sieben Jahre seit dem letzten Mal, und nichts aber auch gar nichts hat sich an ihm verändert. Er ist zerlumpt gekleidet, sturzbetrunken und dreht sich eine Zigarette. Wie stark der menschliche Körper sein muss, dass er solch eine Selbstzerstörung so lange aus- und durchhält. Am gestrigen Abend geht es mir mehrere Male so, dass ich Menschen die ständig gleichen – nicht immer selbstzerstörerischen – Gesten aus der Vergangenheit ausführen sehe. Sind sie aus ihrem Selbst niemals herausgekommen, haben sie nie das Bedürfnis verspürt, etwas zu ändern, oder haben sie es doch und es nur nicht geschafft? Ich weiß nur eins: dieses Festival konzentriert eine Zusammenführung der Gescheiterten. An der Gesellschaft und an sich selbst und vor allem an Rauschmitteln. Eins dieser Rauschmittel, aus metaphorischer Sicht, ist die Musik. Aber sie scheint nur ein Katalysator zu sein, durch den das Eigentliche geschleust wird. Vielleicht komme ich damit auch mal zur Musik, damit die Beschreibung des Elends ein Ende hat. Als erstes vernehme ich auf der Waldbühne Töne von JULIA aus Österreich; was ich von denen noch mitbekomme scheint recht gefälliger Boysetsfire-Core zu sein, angekündigt sind heute diese Bands auf Flyern mit Genre-Beschreibungen, die sich nur ein absolut Unwissender ausgedacht haben kann, oder jemand, der nicht zu oft das Gleiche auf die Flyer drucken wollte. Als nächstes sehe und höre ich auf der Wiesenbühne DISTANCE IN EMBRACE aus Minden, die ich schon einmal live gesehen habe, dort aber mit einem wesentlich besseren Sound. Hier klackert das Schlagzeug und der Bass brummt und stolpert über sich selbst, der Schreigesang ist zu leise und die Gitarren verwaschen. Komplexen Core spielen DISTANCE IN EMBRACE, recht einfallsreich, aber heraushören kann man das heute nur schwer. Dieses Problem mit dem Sound haben DUFF DOWNER aus Ostfriesland nicht, wobei ihr Sound und ihre Songstrukturen auch nicht eine ausgefeilte Abmischung benötigen, DUFF DOWNER spielen intelligenten und traditionsbewussten Heavy Metal/Stoner/Hard Rock mit wenig Metal und viel frühen Black Sabbath. Unerwartet gut klingt das, vor allem die Stimme des Sängers, der in seinen stone-washed Röhrenjeans wie ein uncooler 15-jähriger Schuljunge aussieht, überrascht. Wie kann aus einem solchen Jungen eine so laute Stimme kommen? Auch die Riffs und der Gitarrensound zeugen von aufmerksamen Hard Rock – Studium. Allein das Schlagzeug ist eine Spur zu basisch, im Gegensatz zu den komplexen Bassläufen steht es etwas hintan. Auch wenn im Stoner-Hard-Rock das Schlagzeug eher begleitend sein soll, ist es hier eine Spur zu zurückhaltend, klingt aber trotzdem gut. Kurzer Wechsel zurück zur Waldbühne zu LEFTÖVER CRACK aus den USA, aber da will ich ganz schnell wieder weg; mit Ideologie und Punk-Attitüde aufgeladener Repititions-Ska-Punk, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schablone der Musik zu nehmen, um Parolen zu verbreiten, die die Anwesenden sowieso vor sich hin brüllen und lallen wo man steht und geht, also zurück zur Wiesenbühne, aber da gibt es das genaue Gegenteil davon, sinn- und verstandloser Spaß-Pop aus Deutschland mit TRAVOLTER aus Espelkamp, die mit Mario-Barth-Klischeetexten und Musikbewitzelung ein paar Lacher aus den inzwischen am Rande des Kollaps torkelnden Festivalbesuchern schütteln wollen. Ich stand weit weg von der Bühne, aber ich schätze mal, es hat vorne so wenig wie hinten geklappt. Miserabler Sound, miserable Riffs, miserable Vocals und ein miserables Songwriting, das sind TROVER aus Espelkamp, die ich nun schon zum dritten Mal irgendwo sehe und jedes Mal klingt es miserabler, was ich da von der Bühne höre. Nachdem das großkotzige dicke-Hosen-Intro verklungen ist, höre ich nur ein einziges Schrubbi-Schrubbi von den Gitarren und dem Bass und so eine Art Knattern, das soll wohl die Double-Bass vom Schlagzeug sein. TROVER klingt ja auch so ähnlich wie Trecker, und Trecker-Metal, so möge in Zukunft dieses von Machine Head, Pantera, diversen NuMetal/Crossover-Bands und Irgendwas-Core abkopierte Songwriting genannt werden. Sänger Torsten Nordsiek kann nicht brüllen, nicht screamen und auch nicht shouten, singen sowieso nicht, auf Platte mag das ja noch alles anders sein oder werden, live geht da bei TROVER gar nichts. Das Highlight des Abends folgt dann doch auf der Waldbühne, wo man noch das Ende der kaputt lallenden LEFTÖVER CRACK ertragen muss. Danach aber spielen FOTOS aus Hamburg, die sich einerseits in das Stemweder Open Air Festival eingereiht haben, Sänger Thomas Hessler kündigt vor Beginn schon mal sein Getränk des Abends (Wodka-O) an, andererseits aber komplett mit ihrer Musik dagegen steuern. FOTOS spielen neue und alte Songs, am Anfang noch etwas lahm, später aber schon gelöster, insgesamt kann man sagen, dass man hier den ausgefeiltesten Sound und das beste Songwriting des Abends hört, was einerseits nicht schwierig war, andererseits aber in Deutschland allgemein schon schwierig ist. Die Songs der FOTOS sind voll, voll von schweren Texten, voll von Melodiebögen, voll von Schwelgen. Im Publikum kommt davon nicht mehr viel an, es bleibt Thomas Hessler nicht viel anderes übrig, als den Betrunkenheitsstand in Punkten zu messen und die Angst vor dem Hass der Festivalbesucher auszusprechen, er hätte gedacht, die Leute wollten nur Hardcore-Ska hören. Aber FOTOS müssen sich der ekligsten Eigenschaft der Stemweder Open Air Festival Besucher stellen. Auch wenn man betrunken und asig ist, wenn man nichts auf die Reihe kriegt und sich niemals verändern will, so kann man doch Respekt zeigen, so kann man sich doch die Musik anhören, die dort auf Bühnen verbreitet wird. Aber nein, nicht einmal das schafft man in Stemwede, hier ist den Leuten wirklich nichts heilig, und so klettern nach der Hälfte des Konzerts ununterbrochen Leute auf die Bühne, um Crowdsurfing zu betreiben. Hier ist das kein Ausdruck des Spaßes an der Musik oder der Energie, die man aufgenommen hat, nein, die Leute wollen auf der Bühne stehen, sie wollen von den anderen Besoffenen gesehen werden, sie hampeln herum, klatschen unrhythmisch, ironisieren das, was hinter ihnen auf der Bühne geboten wird. Niemand der Crowdsurfer erkennt einen Unterschied zwischen einer Band, die nur Beiwerk zum Feiern sein will und einer Band, die etwas zu sagen und zu spielen hat. Hier siegt das Riesenego, hier siegt der Minderwertigkeitskomplex, hier sieht man die Respektlosigkeit zutage treten. Es hat sich nichts in Stemwede geändert, vor 8 Jahren, als ich SLUT hier live spielen sah, benahm man sich auch schon so daneben, wie ein Rotzfleck am Ärmel. Leider schlagen FOTOS mit der letzten Zugabe in die Kerbe und covern, wie sie es nennen, einen norddeutschen Partyklassiker, ich nenne hier nicht den Namen. Aber so wie man in den Wald ruft, so schallt es auch heraus, wobei die Frage auf dem Stemweder Open Air Festival bleibt, wer der Wald und wer der Rufer ist. Kein Samstag für mich.
17.08.2008, 14:55
/ Durch Schall und Rauch