GEGENWART
Wo bleiben eigentlich alle Theorien, wenn man während eines RADIOHEAD-Albums denkt: Thom Yorkes Worte sind Gesetz. Und damit nicht Handlungsvorgabe meinen, sondern Gefühlsinstensität. Das Wissen um die Tiefe, die in dem Werk RADIOHEADs steckt. Natürlich sind solche Gesetzmäßigkeiten auch Umstände, gegen die RADIOHEAD anarbeiten. Soll mir alles egal sein. In RADIOHEAD muss ich nichts erfüllen; ich habe mir noch Sekunden vor dem ersten Hören gedacht: ich hätte keinerlei Skrupel einen Verriss zu schreiben, wäre er denn vonnöten. Ist er aber nicht. Ganz und gar nicht.
Glücklich bin ich darüber, einen speziellen Tag und einen Ausflug gewählt zu haben, um das neue RADIOHEAD-Album zu hören. Wenn ich jetzt nämlich hier in meiner Wohnung sitze und das Album höre, kann ich an gestern denken und muss nicht an die Wände denken, die ich sehe. Ich könnte natürlich auch die Augen zumachen, aber das will ich nicht.
Sonntag, 14. Oktober, Tiefurt, Schloß, 14:33 Uhr: An der Bushaltestelle stehen zwei alte seltsame Säulen, an denen ich stehen bleibe und dann das Album anmache. "15 step". Ich gehe ein paar Schritte weiter, bleibe aber schon bald stehen und schaue auf die Ilm; es scheint die Sonne, ich höre die Ilm nicht rauschen, sehe nur die Bewegung des Wassers und bekomme die erste Gänsehaut des Albums. "15 step" gibt allerdings nicht den Ton an für das Album, wie ich bald merke. Schon bei "Bodysnatchers" nämlich. Ja, sie klingen schnell und laut und verzerrt und gerade. Bei "Nude" gehe ich wieder langsamer und sehe ein altes Ehepaar auf einer Parkbank sitzen, das mich freundlich grüßt. Einmal bleibe ich stehen, als Thom Yorkes Stimme allzu sehr präsent und einschneidend wird. Ich muss durchatmen. Thom Yorke kommt mir ein paar Mal sehr sehr nah auf diesem Album, aber es liegt auch sehr oft viel Reverb auf seiner Stimme, viel viel Reverb, wodurch er schwer zu verorten ist und auch so etwas wie eine Desorientierung transportiert. Stimme und Gitarre spielen auf diesem Album große Rollen. "Weird Fishes/Arpeggi" passt so sehr gut zu dem Entlanggehen an der Ilm, weil dieser Song so nach Wasser und fließen klingt. Schon wieder Wasser, genau wie bei "15 step". Eine schöne hörbare Dissonanz bei "All I need".
Es mag komisch klingen, aber ich höre viel The Beatles und Simon & Garfunkel auf diesem Album, vor allem natürlich bei "Faust Arp". Da kommt Popmusik in seiner schönsten Perlenform zurück? Das Fragezeichen weil ich nicht weiß, ob Popmusik abwesend war. Und eine Menge gezupfter Gitarren auf diesem Album. Die restlichen 4 Stücke sind sowieso extrem stark, obwohl ich finde, dass "House of cards" das Album besser beschlossen hätte, als "Videotape". Nicht wegen der Qualität der Lieder, ich finde, dass "Videotape" das stärkste Stück auf dem Album ist, aber vom Gefühl her. Ach, wie schön. Vom Gefühl her. "Reckoner" also als viertletzter Song, Nr. 7 auf dem Album. Hingabe an Melodie und Akkordfolge. Dieses unglaubliche Falsett von Thom Yorke. Das tut so dermaßen gut und zieht mir wirklich die Haut, den Schutzmantel ab. Dann also "House of cards", Größe und Ruhe liegt in diesem Song. Wieder eine tolle gezupfte Melodie bei "Jigsaw falling into place". Aber wie stark RADIOHEAD im Schreiben von Melodien sind, wird erst später im Song klar.
...
Ich kann nicht genau sagen, wieso mich "Videotape" so in die Knie zwingt. Wieso es mich so fertig macht. Vielleicht ist es das erste "Videotape", was Thom Yorke singt, nachdem das Klavier angefangen hat und dann der Bass mit einsetzt, genau wenn Thom "Videotape" singt. Ganz bestimmt hängt es auch mit dem Wissen des letzten Jahres zusammen, alles was ich gelernt habe, im Studium und im Leben. Thom Yorke besingt Medientheorie. Und Lebenstheorie. Aber "Videotape" ist defintiv einer der besten RADIOHEAD-Songs aller Zeiten für mich. Wo war ich im Frühsommer 2003, als "Hail To The Thief" erschien und wo bin ich nun im Herbst 2007 mit "In Rainbows"? Ich bin jetzt ganz wonanders, als ich damals war. Kaum etwas damals Gedachtes ist Wahrheit geworden oder geblieben. Und nichts von dem, was dazwischen liegt, habe ich wissen oder erahnen können. Zwei Pole, an denen ich mich befunden habe. Ganz am Anfang und ganz am Ende, und jetzt wieder an einem anderen Ende/Anfang? RADIOHEAD können gut im Leben markieren.
...
Stellvertretend für einen ganzen Haufen guter Lyrics auf diesem Album, hier der Text zu "Videotape", wie er laut www.greenplastic.com lautet und mit ein klein wenig Nachbesserung:
When I'm at the pearly gates
This will be on my videotape, my videotape
Mephistopheles is just beneath
and he's reaching up to grab me
This is one for the good days
and i have it all here
In red, blue, green
Red, blue, green
You are my center
When i spin away
Out of control on videotape
On videotape
On videotape
On videotape
This is my way of saying goodbye
Because I can't do it face to face
I'm talking to you from...
No matter what happens now
You shouldn't be afraid
Because I know today has been the most perfect day I've ever seen.
Das ist unser aller Heil, das Festhalten der Gegenwart auf Videofilm oder digitaler Speicherung, weil wir glauben, wir könnten in der Zukunft auf die Vergangenheit zurückblicken und sie erinnern. Das Flüchten vor direktem Kontakt, vor direkten Konfrontationen. Und Thom Yorke singt mit dunkler Klangarbe und niedergeschlagenem Timbre "Videotape", immer wieder, immer wieder. Vom Ton her ein Abgesang auf die Moderne?
Noch besser wäre es gewesen, wenn Thom Yorke eingesungen hätte: "No matter what happens now, you shouldn't be afraid. Because I've got it all on videotape."
Diese Zeilen sind Kritik, und wie ich heute gelernt habe, gehören dazu auch Verbesserungsvorschläge. Aber wie, wie könnte ich das noch verbessern wollen?
Sonntag, 14. Oktober, Buchenwald, Blutstraße/Glockenturm, 17:00 Uhr: zum 2. Mal.
Wo bleiben eigentlich alle Theorien, wenn man während eines RADIOHEAD-Albums denkt: Thom Yorkes Worte sind Gesetz. Und damit nicht Handlungsvorgabe meinen, sondern Gefühlsinstensität. Das Wissen um die Tiefe, die in dem Werk RADIOHEADs steckt. Natürlich sind solche Gesetzmäßigkeiten auch Umstände, gegen die RADIOHEAD anarbeiten. Soll mir alles egal sein. In RADIOHEAD muss ich nichts erfüllen; ich habe mir noch Sekunden vor dem ersten Hören gedacht: ich hätte keinerlei Skrupel einen Verriss zu schreiben, wäre er denn vonnöten. Ist er aber nicht. Ganz und gar nicht.
Glücklich bin ich darüber, einen speziellen Tag und einen Ausflug gewählt zu haben, um das neue RADIOHEAD-Album zu hören. Wenn ich jetzt nämlich hier in meiner Wohnung sitze und das Album höre, kann ich an gestern denken und muss nicht an die Wände denken, die ich sehe. Ich könnte natürlich auch die Augen zumachen, aber das will ich nicht.
Sonntag, 14. Oktober, Tiefurt, Schloß, 14:33 Uhr: An der Bushaltestelle stehen zwei alte seltsame Säulen, an denen ich stehen bleibe und dann das Album anmache. "15 step". Ich gehe ein paar Schritte weiter, bleibe aber schon bald stehen und schaue auf die Ilm; es scheint die Sonne, ich höre die Ilm nicht rauschen, sehe nur die Bewegung des Wassers und bekomme die erste Gänsehaut des Albums. "15 step" gibt allerdings nicht den Ton an für das Album, wie ich bald merke. Schon bei "Bodysnatchers" nämlich. Ja, sie klingen schnell und laut und verzerrt und gerade. Bei "Nude" gehe ich wieder langsamer und sehe ein altes Ehepaar auf einer Parkbank sitzen, das mich freundlich grüßt. Einmal bleibe ich stehen, als Thom Yorkes Stimme allzu sehr präsent und einschneidend wird. Ich muss durchatmen. Thom Yorke kommt mir ein paar Mal sehr sehr nah auf diesem Album, aber es liegt auch sehr oft viel Reverb auf seiner Stimme, viel viel Reverb, wodurch er schwer zu verorten ist und auch so etwas wie eine Desorientierung transportiert. Stimme und Gitarre spielen auf diesem Album große Rollen. "Weird Fishes/Arpeggi" passt so sehr gut zu dem Entlanggehen an der Ilm, weil dieser Song so nach Wasser und fließen klingt. Schon wieder Wasser, genau wie bei "15 step". Eine schöne hörbare Dissonanz bei "All I need".
Es mag komisch klingen, aber ich höre viel The Beatles und Simon & Garfunkel auf diesem Album, vor allem natürlich bei "Faust Arp". Da kommt Popmusik in seiner schönsten Perlenform zurück? Das Fragezeichen weil ich nicht weiß, ob Popmusik abwesend war. Und eine Menge gezupfter Gitarren auf diesem Album. Die restlichen 4 Stücke sind sowieso extrem stark, obwohl ich finde, dass "House of cards" das Album besser beschlossen hätte, als "Videotape". Nicht wegen der Qualität der Lieder, ich finde, dass "Videotape" das stärkste Stück auf dem Album ist, aber vom Gefühl her. Ach, wie schön. Vom Gefühl her. "Reckoner" also als viertletzter Song, Nr. 7 auf dem Album. Hingabe an Melodie und Akkordfolge. Dieses unglaubliche Falsett von Thom Yorke. Das tut so dermaßen gut und zieht mir wirklich die Haut, den Schutzmantel ab. Dann also "House of cards", Größe und Ruhe liegt in diesem Song. Wieder eine tolle gezupfte Melodie bei "Jigsaw falling into place". Aber wie stark RADIOHEAD im Schreiben von Melodien sind, wird erst später im Song klar.
...
Ich kann nicht genau sagen, wieso mich "Videotape" so in die Knie zwingt. Wieso es mich so fertig macht. Vielleicht ist es das erste "Videotape", was Thom Yorke singt, nachdem das Klavier angefangen hat und dann der Bass mit einsetzt, genau wenn Thom "Videotape" singt. Ganz bestimmt hängt es auch mit dem Wissen des letzten Jahres zusammen, alles was ich gelernt habe, im Studium und im Leben. Thom Yorke besingt Medientheorie. Und Lebenstheorie. Aber "Videotape" ist defintiv einer der besten RADIOHEAD-Songs aller Zeiten für mich. Wo war ich im Frühsommer 2003, als "Hail To The Thief" erschien und wo bin ich nun im Herbst 2007 mit "In Rainbows"? Ich bin jetzt ganz wonanders, als ich damals war. Kaum etwas damals Gedachtes ist Wahrheit geworden oder geblieben. Und nichts von dem, was dazwischen liegt, habe ich wissen oder erahnen können. Zwei Pole, an denen ich mich befunden habe. Ganz am Anfang und ganz am Ende, und jetzt wieder an einem anderen Ende/Anfang? RADIOHEAD können gut im Leben markieren.
...
Stellvertretend für einen ganzen Haufen guter Lyrics auf diesem Album, hier der Text zu "Videotape", wie er laut www.greenplastic.com lautet und mit ein klein wenig Nachbesserung:
When I'm at the pearly gates
This will be on my videotape, my videotape
Mephistopheles is just beneath
and he's reaching up to grab me
This is one for the good days
and i have it all here
In red, blue, green
Red, blue, green
You are my center
When i spin away
Out of control on videotape
On videotape
On videotape
On videotape
This is my way of saying goodbye
Because I can't do it face to face
I'm talking to you from...
No matter what happens now
You shouldn't be afraid
Because I know today has been the most perfect day I've ever seen.
Das ist unser aller Heil, das Festhalten der Gegenwart auf Videofilm oder digitaler Speicherung, weil wir glauben, wir könnten in der Zukunft auf die Vergangenheit zurückblicken und sie erinnern. Das Flüchten vor direktem Kontakt, vor direkten Konfrontationen. Und Thom Yorke singt mit dunkler Klangarbe und niedergeschlagenem Timbre "Videotape", immer wieder, immer wieder. Vom Ton her ein Abgesang auf die Moderne?
Noch besser wäre es gewesen, wenn Thom Yorke eingesungen hätte: "No matter what happens now, you shouldn't be afraid. Because I've got it all on videotape."
Diese Zeilen sind Kritik, und wie ich heute gelernt habe, gehören dazu auch Verbesserungsvorschläge. Aber wie, wie könnte ich das noch verbessern wollen?
Sonntag, 14. Oktober, Buchenwald, Blutstraße/Glockenturm, 17:00 Uhr: zum 2. Mal.
15.10.2007, 23:52
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